Cartoon: Estimating like a boss

Wenn ich Euch sage, dass wir in den meisten Fällen raten, wenn wir behaupten, zu schätzen, werdet Ihr mir wahrscheinlich nicht zustimmen und das empört von Euch weisen. Wie kann es aber sein, dass unsere Planungen nicht stimmen, obwohl nichts Unvorhergesehenes passiert?

Unser Missverständnis beginnt bei dem, was wir unter dem Begriff »Schätzen« verstehen. Ohne lange drumherum zu reden, mein Verständnis von Schätzen und Raten ist folgendes:

Eine Schätzung ist eine Vorhersage, die auf überprüfbaren Fakten basiert, Raten hingegen basiert auf Gefühlen.

Eines unserer Ziele ist es, eine sehr präzise Vorhersage zu treffen. Das schafft nicht nur sehr viel Vertrauen in der Zusammenarbeit mit dem Kunden, wir benötigen auch ein hohes Maß an Zuverlässigkeit, wenn wir mit mehreren Teams an einem Projekt arbeiten. Können wir unsere Zusagen nicht einhalten, weil wir uns verschätzt haben, und ein anderes Team muss auf uns warten, fangen wir irgendwann an, Diskussionen zu führen, die niemandem Spaß machen.

Wenn das einmal passiert, sagt keiner was, geschieht das jedoch regelmäßig, müssen wir nach den Ursachen fragen, und wir landen dabei, dass wir uns verschätzen. In aller Regel übernehmen wir uns.

Ein möglicher Weg aus diesem Dilemma ist es, Puffer mit einzubauen. Das führt meiner Erfahrung nach allerdings nur dazu, dass man in seinen Refinements noch schlampiger wird. Irgendwann reichen dann nicht einmal mehr die großzügigen Puffer.

Unser Wunsch ist, in den Refinements eine sehr gute Vorstellung davon zu bekommen, was uns in der Umsetzung erwartet. Wenn ich sogar schon die ersten Fragen der Umsetzung beantworte, erhalte ich noch tiefere Einsichten. Diese Schritte müssen wir sowieso tun. Das können wir vor dem Sprint tun, um eine bessere Vorstellung davon zu bekommen, was uns erwartet, oder während des Sprints, um mit größeren Fragezeichen ins Planning zu gehen.

Hier findet Ihr eine Übersicht von Videos zu diesem und anderen Themen

Ein großer Teil unseres Refinements ist letztlich ein »Faktencheck«. Wir bekommen eine Anforderung, und unsere Entwicklerkollegen haben ein paar Dinge im Kopf: das muss man ungefähr so machen, dafür brauche ich ungefähr so lange, etwas Ähnliches war beim letzten Mal ungefähr so aufwändig. All diese Überlegungen sind gut und richtig, aber wenn wir es dabei belassen, basiert unsere Schätzung auf einem Gefühl, weil keine dieser Vermutungen (die darüber hinaus auch sehr vage sind) in irgendeiner Form überprüft wurden.

Wenn wir so vorgehen, gehen wir zuversichtlich ins Planning, weil wir alles im Refinement besprochen haben. Während des Sprints merken wir aber, dass es noch Abhängigkeiten gibt, die wir nicht beachtet haben, oder dass unsere Idee von der Umsetzung überhaupt nicht funktioniert und wir die Sache anders angehen müssen.

Wir könnten nun alles doppelt und dreifach überprüfen, um uns bei allem wirklich sicher sein zu können, angenehm würde das jedoch nicht werden. Was wäre das für ein Arbeitsklima, wenn jede Aussage eist einmal angezweifelt wird? Ich würde in so einem Unternehmen nicht arbeiten wollen, und Ihr wahrscheinlich auch nicht.

Sagt mir ein Kollege, dass er sich in dieser Ecke des Projekts gut auskennt, dann glaube ich ihm und nehme an, dass seine Aussage auf Fakten basiert. Sagt ein Kolleg jedoch, dass er glaube, dass die Dinge so oder so wären, dann spricht doch nichts dagegen, ihn darum zu bitten, das einmal ganz kurz zu checken, damit uns nicht im schlimmsten Fall die Kuh unterm Arsch explodiert, wenn die Dinge doch etwas anders liegen.

Das Zauberwort ist natürlich Balance. Wir müssen nicht jeden kleinsten Kleinscheiß überprüfen. Wir müssen nicht jede Aussage unserer Kollegen anzweifeln, aber wenn wir uns angewöhnen, Annahmen von Wissen zu unterscheiden und dabei sehr konsequent werden, dann werden auch unsere Schätzungen sehr viel genauer werden.

Eine zweite Falle, in die wir gern hineinlaufen, ist die des Vergleichs. Die an uns gerichteten Anforderungen wiederholen sich natürlich in gewisser Weise. Es ist nicht immer alles komplett neu. Sehr oft haben wir die Möglichkeit, eine neue Aufgabe mit einer bereits erledigten zu vergleichen. Wir fragen uns, wie lange es damals gedauert hat, und nehmen diese Zahl als Schätzung für unsere neue Aufgabe an.

Im Grundsatz spricht nicht viel dagegen. Man könnte jetzt checken, wo in den Anforderungen und in den dazugehörigen Umsetzungen die Unterschiede liegen. Kommen wir zum Schluss, dass das keinen großen Einfluss auf die Aufwände hat, sind wir darin bestärkt, das Preisschild der alten Anforderung zu kopieren und auf die neue zu kleben.

Blöd nur, dass unsere Erinnerung gern trügerisch ist.

Tut Euch selbst den Gefallen – auch wenn es wehtut – Eure Kollegen zu fragen, wie teuer eine vergangene Anforderung war. Wahrscheinlich werdet ihr schon unterschiedliche Aussagen bekommen, was daran liegt, dass Zeit subjektiv empfunden wird, sogar wenn wir eine objektive Messgröße wie Tage und Stunden verwenden. Dann checkt gemeinsam, wie gut Eure Erinnerung tatsächlich war, wenn Eure Dokumentation das zulässt. Ich bin mir sicher, Ihr werdet überrascht sein.

Wenn nichts Ungewöhnliches passiert ist, neigen wir dazu, Zeiträume in unseren Erinnerungen zu kürzen: das war nicht so aufwändig, da habe ich maximal einen Tag dran gesessen, tatsächlich waren es aber anderthalb.

Daraus machen wir niemandem einen Vorwurf. Wir stellen lediglich fest, dass Gefühle und Eindrücke Fakten immer wieder überlagen und verzerren. Unser Wunsch ist es, die Faktenlage von diesen Verzerrungen zu befreien.

Noch einmal: das treiben wir nicht auf die Spitze. Je mehr ich zweifle, desto mehr untergrabe ich jedes Vertrauen. Ich rate Euch deshalb dazu, sehr offen mit Euren Kollegen umzugehen und zu erklären, warum ihr die eine oder andere Sache gern einmal überprüfen würdet. Das machen wir natürlich nicht hinter dem Rücken des Teams (ich denke nicht, dass ich das sagen muss, sage es aber trotzdem). Wir checken die Dinge auch gemeinsam. Ich bin als Zweifler nicht derjenige, der sich dann zurückzieht und die Dinge überprüft. Das hätte einen ganz unangenehmen Beigeschmack.

Wenn wir etwas nachprüfen, und die erste Aussage meines Kollegen hat sich als richtig erwiesen (was ja oft genug vorkommt), dann sollte ich der erste sein, der sagt: sorry, dass wir die Zeit jetzt opfern mussten, mir geht es jetzt aber besser, weil ich Sicherheit gewonnen habe.

Im Laufe der Zeit werden wir uns auf ein gutes Maß einspielen.

Kernaussagen: Wenn wir Annahmen als Basis für unsere Planungen nehmen, ist die Gefahr einer Fehlplanung groß. Unser Ziel sollte es sein, Annahmen weitestgehend durch Gewissheit zu ersetzen. Das schafft mehr Planungssicherheit und damit auch eine bessere Zusammenarbeit über Teamgrenzen hinweg.

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