dream-1315892Es kann vorkommen, dass ein Scrum Master nach einiger Zeit feststellt, dass die Retrospektiven an Biss und Spannung verlieren. Wir klappern alle zwei Wochen pflichtschuldigst die drei Fragen »Was war gut, was war Mist und was können wir besser machen?« ab, kommen seit längerer Zeit aber schon nicht mehr weiter. Das Team langweilt sich und schaltet geistig auf Sparflamme, weil es der Meinung ist, dass alles recht gut läuft.

Oft genug wird dann die Retrospektive selbst in Frage gestellt, und man geht dazu über, nur noch alle zwei oder drei Sprints in dieses scheinbar überflüssige Meeting zu gehen.
Das sollte allerdings keinesfalls die Lösung sein. Ebensowenig zielführend ist es, sich treu zu bleiben, und am Ende jedes Sprints immer wieder die gleiche Retro durchzuführen, weil man das eben so machen muss. Von allen Gründen, die man nennen kann, ist das der, den man keinesfalls nennen sollte, denn dann hätte man die Prinzipien der Agilen Softwareentwicklung nicht verstanden. Dann hätten wir das Agile Manifest verraten, indem wir doch wieder sklavisch einem Prozess folgten, obwohl wir doch eigentlich wissen sollten, dass Prozesse weniger wichtig sind (oder sein sollten) als Interaktionen.

Scrum (oder Kanban oder wasauchimmer) ist eine ewige Baustelle, an der es immer etwas zu tun gibt. So sehr wir uns auch bemühen, wir werden nie den perfekten Zustand erreichen. Das ist keine neue Erkenntnis. Glauben Sie mir, wenn Ihr Team während der Retro halb abschaltet, haben wir eigentlich ein relativ großes Problem.

Ich muss (hoffentlich) nicht betonen, dass die Retrospektive dazu dient, die Dinge, die wir tun, einfach ein wenig besser zu machen. Was sagt es uns also, wenn das Team daran offensichtlich kein großes interesse mehr zeigt? Dass alle zufrieden sind? Dass alles ganz großartig läuft?

Wenn das Team während der Retrospektive abschaltet, kann das ganz grundsätzlich zwei Gründe haben: entweder hat es das Gefühl, dass sich sowieso nichts ändert, und deswegen den Enthusiasmus abgelegt, oder es hat sich schlicht und ergreifend Langeweile breit gemacht, weil die Retro immer wieder gleich abläuft. Es gibt (gefühlt) keine größeren Themen mehr. Daher spricht man immer nur darüber, dass man hier und da ein klein wenig an der Kommunikation mit irgendwem verbessern müsste.

Im ersten Fall muss die Frage gestellt werden, ob der Scrum Master bevollmächtigt und/oder befähigt ist, das Team adäquat zu unterstützen, indem er den passenden Rahmen schaffen kann. Das Problem ist nur seltener ein Sitzplan und die technische Ausstattung der Arbeitsplätze. Viel häufiger liegt die Schwierigkeit darin, alte Gewohnheiten und Strukturen aufzubrechen. Man kann noch so lange predigen, dass Anforderungen nicht direkt an das Team sondern nur über den Product Owner gestellt werden, der sie in das Backlog einplant, aber wenn einen Tag später doch wieder der Geschäftsführer zu einem der Entwickler marschiert, um ihm persönlich eine wichtige »Sonderaufgabe« zu geben, dann fragen sich Ihre Kollegen irgendwann, was das Ganze eigentlich soll. Dann wird Scrum zu einer leeren Worthülse und die Zeremonien zu Pflichtveranstaltungen, deren Sinn bezweifelt wird (und das völlig zurecht).

Im schlimmsten Fall muss die Frage gestellt werden, ob Unternehmen und handelnde Personen überhaupt zur Agilität bereit sind. Selbstverständlich werden diese Frage alle positiv beantworten, aber wenn man feststellt, dass es keinen Sinn hat, und dass es einfach nicht das Richtige ist, dann sollte man auch bereit sein, auf die Bremse zu treten, und einen anderen Weg zu gehen, auch wenn das bedeutet, dass man wieder zum alten Wasserfall zurückkehrt.

Bitte verstehen Sie mich nicht falsch. Die Rückkehr zum Alten ist eine Kapitulation und nur in den seltensten Fällen erstrebenswert. Es ist der allerletzte Ausweg aus der Misere, wenn Sie unzweifelhaft feststellen, dass Agilität grundsätzlich abgelehnt wird. Andernfalls gibt es immer einen Weg. Ich gehe jetzt nicht darauf ein, warum man sich dafür entschieden hat, obwohl man es eigentlich nicht will. Das kann ein weiteres sehr kompliziertes Thema sein.

Wenn die Situation schwierig ist, brauchen Sie einen sehr erfahrenen Scrum Master. Leider wird gerade diese Position zu oft »irgendwie« besetzt. Ein Kollege wird auf ein Seminar geschickt, darf sich »Zertifizierter Scrum Master« nennen, hat jedoch keinerlei Erfahrung in dieser Rolle und soll jetzt gestandene Manager aus anderen Abteilungen dazu bringen, den Agilen Gedanken zu verinnerlichen? Das halte ich für ein sehr optimistisches Vorgehen. Sprechen Sie mit mir. Ich weiß, wie schwer der Einstieg in diese Rolle und die Einführung von Scrum im Unternehmen sein kann.

Langweile ist ein ganz anderer Fall. Nach einiger Zeit stellen sich ganz unweigerlich erste Abnutzungserscheinungen ein. Man trifft sich immer wieder zur selben Zeit am selben Ort und beantwortet die selben drei Fragen. Das führt nicht nur dazu, dass man das als immer uninteressanter werdende Routine betrachtet, sondern auch, dass man sich immer oberflächlicher mit den gestellten Fragen beschäftigt. Als Scrum Master werden sie feststellen, dass es immer schwieriger wird, tiefere Erkenntnisse aus einer Retrospektive zu gewinnen, und das liegt nicht daran, dass es diese nicht mehr gibt (bitte geben Sie sich keinesfalls dieser Illusion hin). Es liegt meistens daran, dass man nicht mehr danach sucht, weil man nicht weiß, wie man danach suchen soll.

Es ist eine nette Abwechslung, wenn man die Retro einmal an einem anderen Ort durchführt, aber eben auch nicht mehr. Einmal zum Mittagsbuffet beim Chinesen um die Ecke zu gehen, wird ihre Kollegen freuen, wenn sie chinesisches Essen mögen. Sehr wahrscheinlich sorgen Sie so auch für eine fröhlichere und entspanntere Stimmung (wenn nicht alle vollgefressen sind), und aufgrund dieser gelösteren Grundstimmung kommen Sie vielleicht diesmal wieder einen kleinen Schritt weiter, aber das Kernproblem immer gleich bleibender Ergebnisse der Retrospektive ist nur selten die Stimmung (und wenn sie es ist, dann hilft der Chinese auch nicht viel), sondern die immer gleich bleibende Fragestellung.

Sprint für Sprint fragen wir, was war gut, was war schlecht, und was müssen wir besser machen. Ganz selbstverständlich kommen irgendwann die selben Antworten, also sollten wir damit beginnen, andere Fragen zu stellen. Ich möchte nicht auf alle Möglichkeiten eingehen, die Sie hier haben, aber ein ganz einfaches Beispiel: Fragen Sie einmal Ihre Entwicklerkollegen, wie der perfekte Tag im Büro aussehen sollte. Ermutigen Sie sie dazu, herumzuspinnen. Sehr wahrscheinlich wird einer sagen, dass der perfekte Tag eben der sei, an dem er nicht ins Büro kommen müsse. Fragen Sie weiter, warum das so sei. Wäre es angenehm und sinnvoll, gelegentlich im Homeoffice zu arbeiten? Die Frage nach dem perfekten Tag öffnet neue Perspektiven, indem einzelne Personen anfangen, über das »Undenkbare« nachzudenken. Auch im Absurden verbergen sich Ansätze für das Reale, auf denen Sie aufbauen können.

Oft genug zügelt das Team sich selbst und schlägt ohne Ihr Zutun die Brücke vom Abwegigen zum realen Arbeitsalltag. Dann erwächst aus einer launigen Bemerkung oder einem nicht ganz ernst gemeinten Kommentar eine ernsthafte Diskussion über einen Aspekt eben dieser Bemerkung, der vielleicht doch nicht so abwegig ist. Auch kommen so die Dinge ans Tageslicht, die unausgesprochen bleiben, weil sie entweder nicht so bewusst waren, oder weil man sich nicht wirklich getraut hat, sie anzusprechen.

Natürlich wissen wir, dass die Retrospektive ein eigentlich tabufreier Raum sein sollte (auch wenn er recht strengen Regeln unterliegt), aber ebenso gut sollten wir wissen, dass es diese Tabus eben doch gibt. In jedem Unternehmen gibt es Heilige Kühe. Das können etablierte Rituale sein, die aus Tradition gepflegt werden, die aber schon längst ihren Sinn verloren haben. Man spricht nicht darüber, weil man weiß, wie wichtig eben diese Rituale einer anderen Person sind.

Lassen Sie sich einfach überraschen, was bei dieser geänderten Fragestellung herauskommt. Der »perfekte Tag« ist auch nur eine von vielen Möglichkeiten. Viele Anregungen finden Sie z.B. beim Retromat (http://plans-for-retrospectives.com/).

twitterrssyoutube
Facebooktwitterredditpinterestlinkedintumblr