Wir kennen das alle: Beginnen voller Motivation und toller Ideen ein neues Projekt, doch dann schlägt die harte Realität zu, und wir erkennen, dass wir in einem Zombie-Scrum gelandet sind oder die Organisatin in irgendeiner anderen Form nicht mitspielt. Wie verhalten wir uns?
Jeder gute Agile wird darauf sofort antworten, dass es unsere Aufgabe sei, an diesen Verhältnissen etwas zu ändern. Wir müssten die Verantwortlichen und die Entscheider zusammenbringen und von ihren Fehlern überzeugen (guter Witz – das Management macht keine Fehler), an der Weiterentwicklung der Organisation arbeiten und irgendwann würde alles gut werden. Im Grundsatz ist das natürlich richtig, aber die meisten Unternehmen und Projekte scheren sich nicht um Agilität. Lasst uns da ehrlich sein, sonst werden wir alle sehr unglücklich werden.
Und damit haben sie vollkommen recht: Agilität ist nie Selbstzweck – sie dient immer einem höheren Zweck. Wir wollen an Effizienz gewinnen, näher an den Kunden heran, um ein am Markt stärkeres Produkt zu entwickeln, oder nehmen einen der zehn anderen möglichen Gründe. Wir sind Teil einer Gesamtorganisation, und die verfolgt ein Ziel. Agilität ist dabei das Mittel zum Zweck.
Leider gibt es in jedem Unternehmen sehr viele Personen mit sehr vielen unterschiedlichen Zielen. Wirtschaftlich haben einige eher die Kostenseite im Auge, andere eher die Gewinnseite. Es geht um Aufwandsreduktion oder schnelle Entwicklungszeiten, mehr Features oder mehr Fokus auf Marketing. Und dann gibt es natürlich noch die Kollegen, die nur an ihr eigenes Wohl und ihre eigene Karriere denken. Es wäre ein Fehler, diese Motivation bei Menschen zu ignorieren.
Dazu kommt, dass viele Personen viele Ideen haben, wie sich Ziele am besten erreichen ließen. Einige setzen auf Altbewährtes, andere sind experimentierfreudiger. Jeder bedient sich in dem Werkzeugkasten, mit dem er oder sei sich am besten auskennt. Das ist nachvollziehbar und legitim.
Dann haben wir natürlich noch den Prozess, um Prozesse zu ändern. Der kann in komplexen größeren Organisationen geradezu unfassbar lang und steinig sein. All dies sind Gründe, warum die wahre Welt im allgemeinen ganz anders aussieht als die Theorie, die wir aus Literatur oder Seminaren kennen. Da ist immer alles ganz einfach, alle sind motiviert, keiner legt uns Steine in den Weg, wir haben die volle Unterstützung der Geschäftsführung, und vor allem: alle wollen Agilität.
Das ist unser erstes echtes Problem: Keiner will Agilität, alle wollen etwas Anderes. Sie wollen mehr Effizienz – nur um eines der möglichen Beispiele zu nennen. Selbst wenn es uns gelingen würde, an alle Entscheider heranzukommen, und das ist beileibe keine leichte Aufgabe, denn oft genug sind die so weit von uns entfernt, dass wir nicht einmal einen Termin (eine Audienz) bekommen, und all diesen Personen erklären, was wir im Sinne der Agilität ändern wollen, würden wir sehr schnell die Gegenfrage bekommen, was uns das am Ende Zählbares brächte. Genau das ist der Punkt: wir werden nicht daran gemessen, ob wir die agilste Organisation der Welt aufbauen, wir werden an der Erreichung unserer Ziele gemessen. Das betrifft nicht nur den Rest unserer Teams sondern auch uns Scrum Master und Agile Coaches.
Damit ist jetzt der Moment gekommen, Pragmatiker zu werden und sich in unser Schicksal zu fügen, was nicht bedeutet, dass wir den Kopf in den Sand stecken, sondern, dass wir uns zuerst einmal bewusst machen, wie weit unser Einfluss reicht. Alles was jenseits unserer Einflusssphäre liegt, muss uns nicht kümmern, das müssen wir als Rahmenbedingung akzeptieren – ob es uns gefällt oder nicht. Sich an einem Tema abzuarbeiten, dass ich nicht ändern kann, kostet nur Zeit und Aufwand, und ist am Ende reine Verschwendung. Sind denn nicht wir gerade die, die anderen beibringen wollen, wie man Verschwendung erkennt und eliminiert?
Eine ernstgemeinte Warnung an dieser Stelle: Es ist verlockend, auf der einen Seite seine eigene Einflusssphäre erweitern zu wollen, oder auf der anderen Seite zu viel Aufwand zu investieren, obwohl man sich noch nicht sicher ist, dass die eigenen Bemühungen überhaupt Früchte tragen können. Daher ist es immer eine gute Idee, den eigenen Einflussbereich regelmäßig einem Check zu unterziehen.
Eine Einführung in die höhere Kunst der Einflüsterung und der Verhandlung um Allianzen und dergleichen mache ich vielleicht zu einem späteren Zeitpunkt. Dies wären Möglichkeiten, die eigene Einflusssphäre zeitweilig zu erweitern, erfordern aber sehr viel diplomatisches Geschick.
Wir sind jetzt an einem Punkt angekommen, an dem wir uns klar gemacht haben, wie weit unser Einfluss reicht, und was wir ändern können, und was nicht. Damit können wir uns fokussieren und die Themen auswählen, in die wir Aufwände investieren wollen. Alle anderen – auch wenn sie uns noch so sehr ärgern – lassen wir außen vor.
Wenn man es geschafft hat, zu akzeptieren, dass man einige Dinge einfach nicht ändern kann, verschafft uns das die Freiheit, unbelastet in die Themen zu gehen, an denen wir mit Aussicht auf Erfolg arbeiten können.
Jetzt stelle ich mir die Frage: was erwartet meine Organisation von meinem Team und von mir, und haben wir die Mittel, diese Erwartungen zu erfüllen? Wenn nein, dann definiert das meine höchste Priorität. Es ist meine Aufgabe, meinem Team diese Mittel zu beschaffen.
Dem könnte man leicht widersprechen. Die Aufgabe eines Scrum Masters sei es, dass Scrum funktioniere, aber das ändert nichts daran, dass die Erwartung an uns eine andere ist. Die Erwartung an uns ist nicht, dass Scrum läuft, sondern dass das Team läuft. Und wenn das nicht der Fall ist, soll heißen: wenn das Team nicht erwartungsgemäß performt, dann ist es unser Job, dafür zu sorgen, dass sich das ändert. Klinge ich damit wie einer der Manager, die unser aller Feindbild darstellen? Ganz bestimmt, aber das ändert nichts daran, dass das die Situation ist, mit der wir umgehen müssen.
Ist damit Beschaffung oder eine Aufstockung des Personals unsere Aufgabe? Nein, das liegt bei anderen Kollegen. Es ist allerdings ganz bestimmt unsere Aufgabe, dafür zu sorgen, dass die Bedarfe klar sind, dass der Gap zwischen Notwendigkeit zur Zielerreichung und Status Quo den Personen und Rollen klar ist, die daran etwas ändern können, unabhängig davon, ob wir dieses Gespräch direkt führen oder die Zahlen liefern, oder ob wir andere dazu bringen, dies zu tun. Es ist unsere Aufgabe, die Erwartungen an unser Team zu kennen und allen klar zu machen, dass diese unrealistisch sind, wenn dem so ist. Vieles von dem, was wir tun, hat wenig mit den Dingen zu tun, die wir im Scrum Guide lesen können. Und viele der Methoden und Werkzeuge, die wir einsetzen haben weder etwas mit Scrum noch mit Agilität zu tun. Damit begeben wir uns in eine große Gefahr, nämlich jeden Gedanken von Agilität einer Zielerreichung zu opfern, womit wir genau das tun würden, was wir versuchen, anderen Menschen auszutreiben. Ich behaupte, dass das eine der größten Schwierigkeiten in unserer Aufgabe ist. Harte weltliche Anforderungen mit einem Ideal bzw. einer Idee zu verbinden, ist immer eine Zerreißprobe. Eines gibt es jedoch, was uns auch hierbei das Leben leichter macht, nämlich die Rückbesinnung auf den Kern dessen, was wir unter Agilität verstehen. Wir wollen in schnellen Iterationen sowohl unser eigenes Vorgehen als auch unsere Produkte kontinuierlich verbessern. Oft genug liegt der Schlüssel dazu nicht im Scrum Guide sondern in unserer eigenen Kreativität. Wir können ein uns gesetztes (ehrgeiziges) Ziel nur erreichen, wenn wir an unseren eigenen Prozessen arbeiten, und das nicht nur einmalig sondern kontinuierlich. Es ist damit unsere Aufgabe, ganz besonders in einem unwegsamen Organisationsgelände, Wege zu finden, genau das zu tun. Die Antworten auf unsere Fragen finden sich dabei nur selten im Scrum Guide. Es ist unsere Aufgabe, diese Antworten selbst zu finden. Darum ist unser Job so schwierig, und darum scheitern so viele daran: wir können nicht einfach nur ein Schema abarbeiten. Wir müssen uns an unsere Umgebung und die Zielsetzungen anpassen und unsere eigenen Lösungen und Wege finden.










