cartoon_viewsonagiletransformationWir haben alle Bücher gelesen und glauben, aus den Fehlern Anderer gelernt zu haben, trotzdem finden wir uns irgendwann irgendwo wieder, wo wir niemals landen wollten, und keiner weiß, wie es dazu kommen konnte. Die Antwort ist in aller Regel diese: wir waren nicht konsequent genug, die Heiligen Kühe zu jagen und zu schlachten.

Je komplexer die Organisation ist, desto schwerer haben wir es als Scrum Master. Das ist kein Geheimnis und keinesfalls eine neue Erkenntnis. Das muss natürlich nicht immer so sein, aber lassen wir einfach mal stehen, dass dies eine Grundtendenz ist.

Kleine Organisationen sind weniger komplex, haben weniger Regeln und weniger Prozesse. Vor allen Dingen sind weniger Personen beteiligt. Das macht sie anpassbarer und formbarer. Auch ganz wichtig ist, dass wir in der Lage sind, mit allen Kollegen direkt zu sprechen und sie damit in den Transformationsprozess einzubeziehen.

Bewegen wir uns in komplexen Organisationen, also eher im Konzernumfeld, dann sieht die Sache natürlich vollkommen anders aus: Wir werden mit unendlich vielen Regeln, Prozessen und Strukturen konfrontiert. Dazu kommen gefühlt noch unendlich viele Personen, die in alle möglichen Entscheidungen eingebunden werden wollen, völlig unabhängig davon, ob das Sinn macht oder nicht.

Dennoch starten wir mit dem Projekt Agile Transformation, haben die besten Absichten, arbeiten ganz prächtig mit den Entwicklungsteams zusammen, und plötzlich kommt irgendjemand um die Ecke und erklärt uns mit den besten Argumenten, dass ein bestimmter Prozess nicht verändert werden kann. In unserer grenzenlosen Naivität glauben wir das. Wir halten das sogar für halb so schlimm, weil wir denken, dass man diese eine kleine Hürde locker umschiffen könne, dennoch öffnen wir damit die Schleusentore, und wir können uns sicher sein, dass sehr bald der nächste kommt, der uns schulterzuckend mitteilt, dass eine andere Sache unantastbar sei. Wir würden schon einen Weg finden, Scrum beträfe ja schließlich nur die Entwicklungsabteilung.

Selbstverständlich habe ich die Sache hier überspitzt und komprimiert dargestellt, aber das ändert wenig daran, dass es in komplexen Organisationen fast immer so oder so ähnlich abläuft. Die Sache endet sehr oft damit, dass wir gezwungen sind, Agilität um ein paar starre Säulen herum aufzubauen.

Der erste grundsätzliche Fehler ist die Annahme, dass es Dinge gibt, die unveränderlich sind. Alles, wirklich alles, kann geändert werden, wenn der Wille groß genug ist. Das bedeutet nicht, dass es auch sinnvoll ist, oder dass Nutzen und Aufwand in einem gesunden Verhältnis zueinander stehen. Es bedeutet lediglich, dass es keine Ausnahmen gibt. Wirklich jede Regel und jeder Prozess muss hinterfragt werden, und er muss ernsthaft hinterfragt werden können. Handelt es sich hierbei nur um ein Lippenbekenntnis mit der Folge, dass jede Diskussion mit einer Killerphrase abgewürgt wird, dann ist uns natürlich nicht geholfen.

Die Schwierigkeit ist, dass diese unantastbaren Prozesse tief in die Eingeweide der Organisation reichen, und dass jede Veränderung mit großen Schmerzen verbunden ist. Daher will sie auch niemand anfassen. Jede Veränderung muss mit so vielen Personen abgestimmt werden, was bedeutet, dass irgendjemand den langen Marsch antreten muss, mit all diesen Personen zu sprechen, um danach den noch längeren Marsch anzutreten, sich durch die Entscheidungshierarchien zu wühlen, um diesen einen Prozess zu verändern. Und das schlimmste dabei ist, dass jeder, mit dem Sie sprechen, Ihnen sagen wird, dass dieser Prozess nicht verändert werden kann. Sie müssen jeden einzelnen überzeugen. Das ist aufwändig und frustrierend, und wenn es Ihnen gelungen ist, auf diesem Weg einen Prozess zu verändern, kommt der nächste an, und Sie beginnen wieder von vorn.

Auch der ambitionierteste Scrum Master wird irgendwann aufgeben und den Weg des geringeren Widerstands wählen. Irgendwann wird man die Argumente akzeptieren und sich selbst erfolgreich davon überzeugen, dass dieser eine Prozess tatsächlich nicht verändert werden sollte. Und ich kann nicht einmal jemandem einen Vorwurf daraus machen. Ich weiß, wie mühsam, langwierig und frustrierend es sein kann, sich durch ein Konzernumfeld zu graben.

Jetzt werden Sie sich bedanken und sich sagen, dass ich kleiner Klugscheißer ganz große Klasse darin bin, Probleme aufzuzeigen, aber eine Lösung hätte ich bislang noch nicht präsentiert. Keine Sorge, die kommt noch.

Die Lösung für dieses Problem ist so einfach wie schwierig gleichzeitig: sie ist ein Wechsel der Perspektive. Entscheidungsträger neigen dazu, Dinge von oben nach unten durch die Hierarchien des Unternehmens zu betrachten. Das ist vorwurfsfrei. Diese Sicht ist ganz natürlich, weil sie der Position entspricht, in der sie sich befinden. Wenn sie einen Schritt weiter gehen, versuchen sie, die Sache »von der Seite aus« zu betrachten. Dafür gibt es dann eine Menge Charts und Organigramme. An dieser Stelle kommt die Motivation ins Spiel: wir versuchen alle, mit der kleinstmöglichen Veränderung den größtmöglichen Impact zu erzielen. Wir wollen nicht an allen Schrauben drehen, wir wollen im besten Fall nur an einer einzigen Schraube drehen, ohne das gesamte System zu verstellen.

Die Erkenntnis, dass das einfach nicht möglich ist, ist schwer zu vermitteln. Vor allem muss diese Erkenntnis bei der höchstmöglichen Hierarchieebene ankommen. Das ist schwer, aber ohne diese Vorbedingung werden wir uns immer um ein paar starre Säulen herumwinden müssen.

Hier findet Ihr eine Übersicht von Videos zu diesem und anderen Themen

Ein Unternehmen steht in gewisser Weise unter Spannung. Alle Elemente sind in irgendeiner Form miteinander verbunden, und jede Veränderung strahlt seine Auswirkungen in sein Umfeld ab. Wir drehen an einer Schraube in der Entwicklung und erkennen, dass dies Auswirkungen auf das Marketing hat. Reagieren wir nicht darauf, haben wir einen Reibungspunkt erzeugt. Reagieren wir darauf und drehen an einer Marketingschraube, kommt Geschrei aus zwei anderen Ecken, dass die Dinge plötzlich anders laufen. Wir müssen also an zwei weiteren Schrauben drehen. Tun wir das, schreien ganz plötzlich noch viel mehr Leute auf, und wir müssen an ganz vielen Schrauben drehen. Und genau das ist es, was wir tun müssen. Wir dürfen nicht aufhören, an den Schrauben zu drehen, bis alles wieder im Gleichgewicht ist. Das ist mühsam und langwierig, aber es lohnt sich. Uns dies muss jedem klar sein: Die Vorteile der Agilen Transformation haben wir erst dann erreicht, wenn wir alle Schrauben nachgezogen haben und die Maschine dann wieder rund läuft.

An dieser Stelle kommen wir aber zum nächsten ganz großen Problem: je komplexer und größer die Organisation ist, desto begrenzter ist das Verständnis für Agilität.

Im allgemeinen wird nur die Entwicklungsabteilung eingeweiht und geschult. Die umliegenden Organisationseinheiten wie Controlling oder HR haben dann zwar auch mal was von Scrum und Agilität gehört, können aber nicht besonders viel damit anfangen. Das Wissen ist hier nur sehr oberflächlich angekommen, und wenn wir ehrlich sind, interessiert sich auch keiner dafür.

So wird es aber sehr schwierig an allen Schrauben zu drehen. Warum sollte mein Gegenüber Dinge verändern, wenn er nicht versteht, warum es sinnvoll ist, diese Dinge anzugehen? Er hat keinen Grund dazu, und ich mache ihm keinen Vorwurf daraus. Ich mache dem einen Vorwurf, der es versäumt hat, Scrum und Agilität im ganzen Unternehmen so weit bekannt zu machen, dass alle nicht nur einmal gehört haben, was ein Sprint ist, sondern das alle wirklich verstanden und verinnerlicht haben, was dahinter steht, und warum man sich überhaupt mit diesem Quatsch beschäftigt. Erst dann können wir ernsthaft über Veränderungen sprechen. Erst dann kann ich Hoffnung haben, dass mein Gegenüber mich versteht und überhaupt bereit ist, Dinge zu ändern, die über Jahre nicht angefasst wurden.

Scrum in der Entwicklungsabteilung wird damit zu einer Keimzelle für Veränderung, die sich durch das gesamte Unternehmen ziehen muss. Wenn ich das ignoriere oder sogar vermeide, werde ich niemals die Früchte Agiler Transformation ernten, weil ich immer mit Reibungsverlusten kämpfen muss. Diese unternehmensweite Transformation kann nur mit voller Unterstützung und direkter Einbeziehung der Geschäftsführung erfolgen, da sonst immer die Entscheidungskarte sticht. »Ich kann das nicht entscheiden – das übersteigt meine Kompetenzen« ist ein sehr sehr sehr schwerer Anker, den wir mit uns herumschleppen. Ist die höchstmögliche Entscheidungsebene involviert, geht selbstverständlich alles schneller, weil wir nicht Donkey Kong über die Hierarchien spielen müssen.

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