Cartoon: Stability

Agilität heißt Veränderung willkommen – das klingt als Schlagwort sehr gut, führt aber im echten, wahren und hässlichen Leben abseits der Seminare und Bücher und Blogs zu vielen Verwirrungen, weil wir oft genug feststellen, dass zu viel Veränderung auch nicht gut ist. Aber was ist das rechte Maß, oder wo wollen wir Veränderung und wo nicht?

Natürlich lassen sich diese Fragen nur sehr schwer pauschalisiert beantworten. Wie bei vielen anderen Dingen in unserer Arbeit gilt auch hier, dass es sich nicht um eine präzise Wissenschaft handelt. Wir können uns jedoch sicherlich auf einige Grundsätze einigen, die Euch helfen dürften, die Dinge in Eurer Umgebung besser zu beurteilen und einzuordnen.

Vielleicht sollten wir sogar damit beginnen, was der Begriff »Änderungen willkommen heißen« für uns eigentlich bedeutet. Wir könnten darunter verstehen, Änderungen zu akzeptieren und damit zu arbeiten, oder Änderungen zu treiben.

Ihr seht – das ist ein großer Unterschied.

Zum anderen hat die Aussage mehrere Aspekte. Zum einen Änderungen der Organisation, Änderungen der Prozesse oder Änderungen des Scopes. Uns fallen noch mehr ein, wenn wir darüber nachdenken.

Aber beschränken wir uns der Einfachheit halber auf diese drei. Irgendwo müssen wir ja anfangen (und vor allen Dingen: auch enden).

Unter Änderungen in der Organisation können wir alles zusammenfassen, was den Teamschnitt betrifft, was Managementebenen betrifft, oder anders ausgedrückt: alles, was wir irgendwie in einem Organigramm sehen könnten.

Dies sind Dinge, die immer weh tun, die immer einen großen Aufwand nach sich ziehen, und die uns deswegen immer auch behindern – selbst wenn sie mittelfristig positive Auswirkungen haben.

Manchmal bleibt uns nichts Anderes übrig als den Teamschnitt zu ändern (z.B. wenn sich zwei Kollegen einfach nicht riechen können). Vielleicht benötigen wir zusätzliche Fähigkeiten. Auf skalierten Ebenen habe ich schon miterlebt, dass ganze Managementebenen gestrichen wurden, weil man sich davon eine schlankere Organisation mit kürzeren Wegen versprochen hat. Je nachdem welche Rolle wir einnehmen, können wir zum Initiator solcher Veränderungen werden.

Hier findet Ihr eine Übersicht von Videos zu diesem und anderen Themen

Und wir sollten diese Art von Veränderung auch anstreben, wenn wir es für nötig halten. Unser Ziel ist und bleibt die Optimierung unserer Prozesse – innerhalb eines Teams oder auf anderen Ebenen. Wenn sich bei genauerer Betrachtung herausstellt, dass Änderungen der Organisation uns mittel- und langfristig weiterbringen, dann werden wir sie einleiten.

Hier kommen wir zu einem ganz wichtigen Punkt und zu einem grundlegenden Missverständnis der Agilen Welt: Agilität bedeutet nicht, dass es keine langfristige Planung gäbe. Selbstverständlich gibt es die. Wir können Budgets nicht wöchentlich neu aushandeln. Wir können nicht alle zwei Wochen neue Kollegen einstellen und wieder feuern. Agilität bedeutet in diesem Zusammenhang lediglich, dass Vereinbarungen und Pläne veränderlich sind, weil wir aus unseren Erfahrungen lernen.

Das heißt also, dass Veränderungen in der Organisation eine langfristige Betrachtung benötigen, dass uns bewusst sein sollte, dass sie auch immer disruptiv sind (mit anderen Worten: teuer), dass wir sie dennoch anstreben, wenn wir sie für angebracht halten, dass wir sie aber keineswegs leichtfertig durchführen. Diese Dinge wollen wirklich wohl überlegt sein, man kann sie schließlich nur sehr schwer wieder rückgängig machen.

Prozesse begegnen uns auf allen Ebenen. Wir finden sie innerhalb einzelner Teams, wo sie vielleicht nicht immer niedergeschrieben sind, sondern sich einfach etabliert haben. Wir finden sie auf allen Ebenen, wenn wir uns fragen, wie Anforderungen von der Geschäftsführung eigentlich bei den Teams landen. Und das ist nur eine von unzähligen Facetten.

Auf Teamebene haben wir unsere Retrospektiven, die explizit Veränderung zum Ziel haben. Das ist gut und richtig und stellt keiner in Frage. Hier durchleuchten wir unsere Arbeitsweisen, die wir nicht immer »Prozesse« nennen (aber sind welche), finden Lücken und Schwachstellen und streben eine kontinuierliche Weiterentwicklung an.

Was wir hier finden und tun, ist selten disruptiv. Es sind kleine Schritte, von der nur eine kleine Menge an Personen (unser eigenes Team und vielleicht ein Nachbarteam, wenn wir über Zusammenarbeit sprechen) betroffen ist. Die Folgen sind überschaubar, und es ist leicht durchzuführen.

Anders sieht es aus, wenn wir über unsere »großen« Prozesse sprechen, wie Anforderungen ins Portfolio kommen, dort angereichert und ausgearbeitet werden und daraufhin die gesamte Kaskade bis in die Backlogs der Teams durchlaufen.

Veränderungen hier sind extrem teuer, weil viele Personen und Rollen betroffen sind, die neue Dinge lernen müssen. Vielleicht müssen wir erst passende Werkzeuge schaffen. Diese Prozesse können hochkomplex sein, so dass Veränderungen einem Mikado-Spiel gleichen. Wenn ich eine Sache bewege, muss ich aufpassen, dass nicht plötzlich an einer anderen Stelle etwas umfällt. Dafür haben viele Unternehmen Prozessmanager. Und wenn die ihren Job richtig machen, können die uns sagen, welche Veränderungen auf der einen Seite welche Folgen auf der anderen Seite haben.

Analog zu den Veränderungen in der Organisation heißt es auch hier, dass wir unsere großen Prozesse trotzdem überdenken und überarbeiten, wenn wir es für sinnvoll halten. Uns ist lediglich die Schwierigkeit dabei bewusst. Je mehr Personen und Rollen betroffen sind, desto aufwändiger wird es werden, desto mehr Widerstände werden wir ernten, und desto besser sollten wir unsere Änderung durchdenken, was jedoch nicht bedeutet, dass wir davor zurückschrecken sollten.

Wir ändern die großen Prozesse nicht im Wochentakt, aber wir ändern sie, wenn es sinnvoll ist. Dafür benötigen wir einen Review-Prozess – eine Möglichkeit, die bestehenden Dinge zu hinterfragen. Wenn es jedes Mal dem Schlachten einer Heiligen Kuh gleich kommt, die Sinnhaftigkeit einzelner Dinge auch nur in Frage zu stellen, werden wir uns nicht weiterentwickeln.

Wer ist also für diese großen Prozesse zuständig? An wen muss man sich wenden, wenn man eine Schwachstelle findet oder einen Vorschlag hat (lieber einen echten Vorschlag als nur Kritik)? Wie sieht dann der Weg vom ersten Gespräch bis zur tatsächlichen Änderung eines Prozesses aus?

Das sind Dinge, die wir wissen sollten, und wenn sie nicht geklärt sind, sollten wir dringend eine Klärung anstreben. Tun wir das nicht, behindern wir uns selbst.

Zuletzt noch ein Blick auf Änderungen im Scope oder im Projekt selbst.

Glaubt irgendwer, dass wir in Scrum iterationsweise planen? Dass wir nur von Sprint zu Sprint denken?

Natürlich tun wir das nicht. Wir haben definierte Projektumfänge. Es gibt dazu schriftliche Vereinbarungen mit Kunden. Hinter den Sprints und den Sprintzielen stehen trotzdem Meilensteine und größere Featuresets.

In den Sprints planen wir die Details, aber in welchen Intervallen – oder besser: in welcher Form – planen wir auf größerer Ebene? Veränderungen unserer Planung auf Sprintebene tun nicht weh. Wenn wir ein Backlog-Item von einem Sprint in den anderen schieben und dabei umformulieren, weil sich Details ändern, dann ist das keine große Sache. Mit Veränderungen auf den größeren Ebenen sieht das jedoch ganz anders aus.

Wir haben unsere Backlogs mit vielen Items gefüllt, die schon recht weit in die Zukunft reichen, wenn wir ehrlich sind, weil wir wissen (oder zu wissen glauben), was noch alles kommen wird. Wir haben schon über weitere Umfänge gesprochen als die, die nur in unseren nächsten beiden Sprints abgebildet sind.

Wir wissen, dass sich mehrere Teams koordinieren. Dazu haben sie vielleicht auf das kommende Quartal geblickt (ein freundliches Hallo an SAFe).

Heißen wir in diesem Kontext ebenfalls Veränderungen willkommen?

Bleiben wir bei SAFe. Ändert sich der Scope des nächsten PIs, also der Scope der dem Sprint übergeordneten Iteration, dann darf nicht nur ein Team einen Sprint neu planen, dann dürfen x Teams vier oder fünf Sprints neu planen.

Das macht keinen Spaß, und das will kein Mensch. Solche Dinge machen wir nicht leichtfertig. Änderungen in dieser Größenordnung machen wir nur dann, wenn uns nichts Anderes übrig bleibt.

Aber wir schrecken auch nicht davor zurück, wenn es notwendig ist. Das Festhalten an einem Plan, nur weil die Änderung teuer wird, wäre am Ende sogar noch teurer.

Kernaussagen: Die Frage nach Veränderung ist immer die Frage nach Umfang und Art der Änderung. Unser Vorgehen richtet sich nach dem Risiko (den Auswirkungen) der Änderung. Wir streben Veränderung an, wo Nutzen und Risiko in einem gesunden Verhältnis zueinander stehen. Veränderung selbst ist jedoch niemals unsere Triebfeder. Stabilität hat einen großen Stellenwert, weil Veränderung immer auch disruptive Eigenschaften hat, die wir in unsere Überlegungen einbeziehen.

Wenn Ihr mehr erfahren wollt, oder Unterstützung braucht, sprecht mich einfach an.

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